Die Anfänge

Das Lager Vereinshaus

Dr. Dieter Vaupel

Auf dem Gelände, auf dem sich heute neben dem Kindergarten und der Grundschule Hessisch Lichtenau auch die Förderstufe der Freiherr-vom-Stein-Schule befindet, stand während der Zeit des Nationalsozialismus ein Barackenlager, das der Unterbringung von Arbeitskräften der Sprengstoffabrik Hessisch Lichtenau diente. Heute erinnert ein 1986 aufgestellter Gedenkstein mit folgender Inschrift an eine Gruppe der Menschen, die dort ehemals untergebracht waren:
„Zum Gedenken an die ungarischen Jüdinnen, die hier vom 2.8.1944 bis zum 29.3.1945 als Häftlinge im Außenkommando Hessisch Lichtenau des Konzentrationslagers Buchenwald leiden mußten.“ In den Baracken des ehemaligen Lagers „Vereinshaus“ – von denen die letzte Mitte der fünfziger Jahre abgerissen wurde – liegen auch die Anfänge des Lichtenauer Realgymnasiums und somit der Freiherr-vom-Stein-Schule. Dies ist Anlaß, zum 50jährigen Jubiläum einen kurzen Blick auf die Geschichte des Lagers zu werfen.

Das Lager Vereinshaus war das erste Lager, das von der „Verwertchemie“ Hessisch Lichtenau, einer der ehemals größten Sprengstoffabriken im gesamten Deutschen Reich, errichtet wurde. 1936 hatte die Gemeinde das Grundstück zwischen der Heinrichstraße und der Hopfelder Straße von dem verstorbenen Fabrikanten Dr. Richard Wolff geerbt, damit – so steht es im Notariatsprotokoll – „die Stadt in die Lage versetzt wird, auf diesem Gelände ein Schulgebäude zu errichten.“ Die Errichtung einer Schule ließ allerdings noch einige Jahre auf sich warten. Zunächst wurde das Gelände einer anderen Nutzung zugeführt: Die Kommune verpachtete das knapp 1,4 ha große Gelände für monatlich 200 Reichsmark an die Verwertchemie, die dort in drei Bauabschnitten von 1938 bis 1940 ein Holzbarackenlager baute.

Der Name „Vereinshaus“ bezieht sich auf das früher neben dem Lager liegende Auguste-Viktoria-Heim (abgerissen 1973), das im Volksmund „Vereinshaus“ genannt wurde. Es war 1913 als evangelisches Gemeindehaus errichtet worden und diente später als Kindergarten, Volksschule und zur Durchführung kultureller Veranstaltungen. Kinder gingen 1944/45 dort zur Schule, während nebenan jüdische Frauen interniert waren. Frau S., die während des Krieges als Laienlehrkraft in Hessisch Lichtenau dienstverpflichtet war, erzählt: „Wenn wir mit den Schülern draußen waren, kamen die Jüdinnen an den Zaun und bettelten.“

Das Lager bestand aus insgesamt 23 Gebäuden, fast ausschließlich Holzbaracken. Nur zwei Gebäude bzw. Teile davon waren massiv gebaut, der Heizungsraum und ein Materiallager. Im einzelnen gab es 10 Wohnbaracken (240-300 qm), 2 Wirtschaftsbaracken, 3 Toilettenbaracken, 2 Waschbaracken und 6 Lagerbaracken bzw. Schuppen. Die Holzbaracken konnten durch ein zentrales Heizsystem versorgt werden, nur in der Küche gab es einen offenen Feuerplatz. Die primitive Bauweise und die mangelhafte Isolierung der Holzbaracken führten dazu, daß es dort im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt und feucht war. Durch Risse in den Brettern wehten Schnee und Regen und zog der Wind. Auch die Heizung funktionierte nicht immer, wie eine ehemalige Konzentrationsgefangene berichtet: „Die Kälte wurde immer größer, aber die Zentralheizung funktionierte nicht; aber dann, gelegentlich, arbeitete sie wieder, und die Baracken waren zu diesen Zeiten fürchterlich überheizt, was, so vermute ich, dazu diente, den Wanzen eine reelle Chance zum Überleben zu geben.“

Die Belegungsmöglichkeiten des Lagers waren für 700 Personen berechnet. Diese Zahl ist später jedoch erheblich überschritten worden: Weit mehr als 1000 Menschen waren dort zusammengepfercht. Das Lager diente zuerst der Unterbringung von Bauarbeitern. Danach wohnten in ihm außer deutschen und ausländischen Bauarbeitern vor allem französische Betriebsarbeiter. Insgesamt waren im Laufe der Jahre Arbeitskräfte aus folgenden Nationen hier untergebracht: Belgien, Bulgarien, Frankreich, Holland, Italien, Polen, CSR und Sowjetunion.

Im Sommer 1944 wurde ein Teil des Lagers abgeteilt und der SS zur Unterbringung weiblicher KZ-Gefangener, ungarischer Jüdinnen, zur Verfügung gestellt. Die Verwertchemie trat diesen Teil an die SS ab, und im abgetrennten Lagerbereich wurden seit dem 2.8.1944 zwischen 790 und 1000 Jüdinnen, die in der Sprengstofffabrik körperlich schwere und gefährliche Zwangsarbeit leisten mußten, auf engstem Raum untergebracht. Die restlichen Baracken waren bis Kriegsende mit ausländischen Arbeitern belegt. Über ihre Lebensbedingungen schreibt eine jüdische Gefangene: „Unsere eigene Ausrüstung war miserabel, Fetzen als Kleider und Holzschuhe haben wir gehabt. Unterwäsche gar keine. Die Ernährung war auch sehr schlecht. Wasserbrühe mit 50 g Brot am Tag. Damit mußten wir arbeiten, 10 bis 12 Stunden pro Tag.“

Um eine „KZ-mäßige“ Unterbringung zu ermöglichen, war der abgetrennte Teil des Lagers von der SS umgerüstet worden. Man zog einen Maschen- und Stacheldrahtzaun und stellte an allen vier Ecken Laternen auf, um das Lager bei Dunkelheit besser bewachen zu können. Der Haupteingang befand sich an der Heinrichstraße, an der Hopfelder Straße war noch ein Durchgang für das Wachpersonal. In dem der SS übergebenen Teil waren außer den Wohnbaracken noch eine Lagerküche, ein Waschraum, eine Waschküche, Lagerräume für Lebensmittel und Kleidung, eine Baracke, in der die Kranken interniert waren, und eine Baracke für das Wachpersonal. Das Büro des Kommandoschreibers befand sich außerhalb des eigentlichen Lagerbereichs.

Am 29. März 1945, wenige Tage vor dem Einmarsch der alliierten Truppen, wurden die Gefangenen des Konzentrationslager Außenkommandos evakuiert, in Viehwaggons zusammengepfercht und nach Leipzig transportiert. Diejenigen, die die Lagerzeit in Hessisch Lichtenau und den anschließenden Evakuierungsmarsch überlebten, wurden am 25. April 1945 in Wurzen von amerikanischen Truppen befreit.

Nach dem Krieg diente das Lager Vereinshaus zunächst als Unterkunft für amerikanische Soldaten und ehemalige polnische Zwangsarbeitskräfte aus der Region. Seit dem Frühjahr 1946 war es Flüchtlingslager. Später wurden einzelne Baracken an örtliche Gewerbetreibende vermietet oder verkauft, so z.B. an eine Roßschlachterei. In einem Teil des früheren Lagers war in der Nachkriegszeit – wie eingangs schon erwähnt – auch das Lichtenauer Realgymnasium zeitweilig untergebracht. Mitte der fünfziger Jahre wurden schließlich die letzten Holzbaracken abgerissen.